Gedenkstätten in Kursk

 

 

Vaterland „РОССЯ“ Russland

Ich suche nach einem Beispiel in Deutschland – aber finde keines. Es müsste ein Identität stiftendes Ehrenmal von nationaler Bedeutung sein. Vielleicht das Hermannsdenkmal bei Detmold? Ach, das Ereignis ist viel zu lange vorbei. Außerdem wird es durch das Denkmal historisch verfälscht. Das protzige Niederwald-Denkmal bei Rüdesheim? Oder die Miniausgabe einer ‚Germania‘ auf dem Karl-Marx-Platz in Witten? Aber keiner von uns identifiziert sich noch mit der Reichsgründung von 1871. Am ehesten könnte man die als Gedenkstätte erhaltenen Reste der Berliner Mauer zum Vergleich heranziehen, weil sie geeignet sind, uns Deutschen ein Gefühl nationaler Identität zu vermitteln. Doch auch dieser Vergleich hinkt. Denn es handelt sich um mahnende Reste eines traurigen Kapitels, und sie haben nichts Heroisches an sich. Überhaupt verbindet sich bei uns die Erinnerung an den letzten Krieg stets mit Trauer, Schrecken und Gräuel. Die Denkmäler, die auf den Ersten Weltkrieg hinweisen, verbinden wir mit falschem Pathos, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern, haben stets mahnenden Charakter.

In Russland ist das ganz anders. Die Stadt Kursk hat zentrumsnah ein großes, parkähnliches Gelände eingerichtet, das die Erinnerung an die Heldentaten der Männer der Roten Armee wach hält. Es ist außerordentlich gut gepflegt, ganz im Gegensatz zu den meisten Straßen mit ihrem rumpelnden und ausgefahrenem Asphalt und den löchrigen bis steinigen Bürgersteigen. Makellos plattierte Wege, von Blumenrabatten und Lebensbäumen eingefasst, führen schnurgerade zum Zentrum, wo sich ein Altar aus spiegelnd poliertem, schwarzem Granit erhebt. Auf diesem ruht ein fünfzackiger Stern, aus schwerer Bronze gegossen, und aus seiner Mitte quillt eine Gasflamme zu ewigem Gedenken. Das Ganze überhöht durch einen schwarzen Obelisk. Hier erhebt sich der Anspruch auf die Unvergesslichkeit des Sieges und der Verdienste russischer Soldaten fast so monumental wie ägyptische Pyramiden. Und wer es nicht weiß, der kann es lesen: Auf zwei seitlich abstehenden Mauern aus rotem Granit steht:

НИКТО НЕ ЗАБЫТ (nikto ne sabit) - NIEMAND IST VERGESSEN
НИЧТО НЕ ЗАБЫТО (nitschto ne sabito) NICHTS IST VERGESSEN

Was wird hier eigentlich verherrlicht? Ohne Zweifel hat die Sowjetunion beim Angriff der Deutschen ein furchtbares Blutopfer bringen müssen. Ohne Zweifel haben Wehrmacht und SS in den eroberten Gebieten unterdrückt und gemordet. Bis die erstarkte Rote Armee zurückschlagen konnte, ihrerseits die deutschen Legionen einkesselte und ab Juli 1943 hier bei Kursk die Material verschlingende, größte Panzerschlacht des Weltkrieges bestand und damit die Wende einleitete.

Feiert man mit dieser Gedenkstätte den Sieg des Kommunismus über den Faschismus? Der faschistische Aggressor hatte ja das klare Ziel, den Kommunismus zu besiegen und die Völker des Ostens zu versklaven. Sicher ist das die eine Botschaft: Der Kommunismus hat den Faschismus in die Knie gezwungen.

Aber Russland ist heute nicht mehr kommunistisch. Daher bleibt ein zweiter Aspekt: Die große Anstrengung, der bittere Blutzoll und schließlich der Sieg haben eine Nation geeint und das Selbstbewusstsein gestärkt und tun es offenbar noch immer. Ein Gefühl von nationalem Stolz. Denn zu beiden Seiten des flammenden Altars stehen zwei junge Männer im olivgrüner Uniform, weißem Koppel und fünfzackigem Stern auf den Revers. Stramm und unbeweglich halten sie Ehrenwache. Als ich sie in die Kamera nehme und genauer hinsehe, erweisen sie sich als sehr jung. Vera (unsere russische Begleiterin, die hervorragend deutsch spricht) erklärt: das hier seien die besten Schüler eines Jahrgangs. Nur durch hervorragende Leistungen verdiene man sich die Ehrenwache, zwanzig Minuten strammstehen für die vaterländischen Helden.

Doch so ganz makellos waren auch diese Helden nicht. Denn beim Vormarsch bis Berlin wüteten sie unter der deutschen Bevölkerung so grausam wie Krieg es zulässt. Und sie zerschossen und brandschatzten in den Städten, was ihnen deutsch vorkam, militärisch völlig unsinnig. Wissen die jungen Leute davon ebenso, wie wir über den Naziterror informiert wurden?

Auf dem Altar liegen in langer Reihe rote Nelken. Einen Teil davon haben wir mitgebracht und ehren damit unsere Gastgeber. Es liegen hier auch Blumensträuße. Die kommen von Brautpaaren. Sehr ungewöhnlich in meinen Augen. Doch darüber später mehr. Blumen sind in Russland übrigens ziemlich teuer.

Alles, was ich hier sehe, ist heroisch. Sogar gegenüber an der Straße, wo ein Hochhaus in Form eines weiß gestrichenen Betonblocks sich erhebt. Unter dem silbrig glänzendem Relief des Sowjetsterns mit Hammer und Sichel findet sich eine monumentale Inschrift:

KURSK, DIE STADT DER VATERLÄNDISCHEN EHRE

Hätte man nicht auch Grund zu einem dritten Aspekt dieser Gedenkstätte, nämlich der Trauer um Millionen von Toten, der Verzweiflung zurückgebliebener Mütter und Bräute?

Möglicherweise ist das verwirklicht in einem seitlichen Teil neben der Hauptachse dieser Anlage. Denn da steht auf hohem Sockel die Skulptur eines Soldaten mit gezücktem Helm, die Kalaschnikow gegen den Bauch gedrückt, den Blick gesenkt, doch eher trotzig statt trauernd. Das Relief zu seinen Füßen bildet Waffen ab, nicht etwa Symbole der Trauer. Leider kann ich die Inschrift nicht verstehen.

Doch etwas anderes verstehe ich besser. Denn ein Stück neben dem Altar gibt es einen Block aus Bronze, einem unregelmäßigen Ei ähnelnd. Davor ein jungfräulicher Engel, halbkniend, und ringsum sind einige in Granit gefasste Gräber mit frischen Blumen. Hier wird an das Atom-U-Boot ‚Kursk‘ erinnert, und damit verbindet sich allerdings keine Heldentat. Denn die ‚Kursk‘ wurde durch ein eigenes Torpedo zerstört, das wohl im Innern des U-Bootes explodierte (im Jahr 2000) und die gesamte Besatzung junger Matrosen grausam in den Tod riss. Es waren vor allem junge Kursker, ihre Familien wünschten sich hier ein Begräbnis und einen Ort der Trauer, nachdem man das Boot mühsam gehoben hatte. So etwas versteht man, ohne die Inschrift lesen zu können. Doch scheint mir der Platz an dieser Stelle ungeeignet. Denn gegen welchen Feind und bei welcher Heldentat mussten Sie ihr Leben opfern? Die jungen Männer, die beim Einmarsch in Afghanistan 1979 und bei den Guerilla-Angriffen der folgenden Jahre in jenem unübersichtlichen Land starben, sind jedenfalls nicht hier begraben.

Und nun zu den Brautpaaren. Es gibt eine zweite Gedenkstätte hier in Kursk. Die liegt auf einer Insel zwischen den zwei Spuren eines Boulevards. Auf gepflegtem Rasen reihen sich hier sauber konservierte Geschütze aus dem vaterländischen Krieg. Am Ende ein Triumphbogen, vor dem Marschall Schukow auf hohem Sockel posiert. Die ganze Anlage ist ziemlich neu, ich glaube aus dem Jahre 2005. Das ist schon erstaunlich, denn seit dem Krieg hat sich die Welt weitergedreht. Heute ist Samstag, und da tut sich in meinen Augen besonders Unverständliches an diesem Ort. Lauter Brautpaare fahren in Feierlaune hier vor, gefolgt von der Hochzeitsgesellschaft, lassen sich vor dem Triumphbogen fotografieren, prosten sich zu. Stellen sie sich hier ein, weil sie keinen anderen großartigen Ort in Kursk haben, oder verbinden sie ihren neuen Lebensabschnitt tatsächlich mit patriotischen Emotionen? Und legen dann die teuren Blumen am Ehrenmal nieder? Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer, das nachzuvollziehen.

Hochzeitsgesellschaften vor Marschall Schukow und dem Triumphbogen;
auf dem Bogen St. Georg, der Schutzpatron Russlands

 

 

Blumen am Ehrenmal

Raimund  Carmignac

 

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