Zwei Reisen nach Kursk

 

 

2001 ein lauer Sommerabend, tagsüber gab es einen strahlend blauen Himmel, es ist jetzt noch warm, beinahe heiß. Ich stehe auf einer breiten Prachtstraße, es ist mäßiger Verkehr, junge Leute flanieren auf den großzügig angelegten Fußwegen vor dem Theater. Schaut man die leicht abfallende Straße entlang, so ist weiter unten eine Kirchenkuppel erkennbar. Ich bin in Kursk, einer großen Stadt in Russland. Der Freundeskreis Witten-Kursk hat eine Bürgerreise in die Partnerstadt organisiert. Seit 1991 besteht zwischen beiden Städten offiziell besiegelt eine Partnerschaft - eine der ersten mit Russland überhaupt. Wer von den jungen Menschen der vergangenen 20, 30 Jahre weiß noch über die Bedeutung der Stadt Kursk im 2. Weltkrieg? Für die Kriegsgenerationen unvergesslich: am Kursker Bogen fand im Sommer 1943 die größte Panzerschlacht des 2.Weltkrieges statt, und der Sieg General Schukows über die deutsche Wehrmacht leitete letztlich den Rückzug der deutschen Soldaten ein - nach der verheerenden Niederlage in Stalingrad. Es war die gemeinsame Kriegserfahrung zwischen Deutschen und Russen, die in Witten zur Gründung des Partnerschaftsvereins Witten-Kursk führte: aus der Friedensbewegung in Deutschland heraus bestand der Wunsch, die alten Feindbilder abzubauen und Verständnis füreinander zu erarbeiten. Offene Ohren für diese Unternehmung fanden sich in Kursk.

 

2011 in Kursk, nach 10 Jahren besuche ich die Stadt erneut, wieder im Rahmen einer Bürgerreise. Es ist Ende September, wir sind von Düsseldorf nach Moskau geflogen, um von dort aus mit dem Nachtzug nach Kursk zu reisen. Anders als vor 10 Jahren wartet niemand aus Kursk in Moskau auf uns, um dann den Weg nach Kursk zu begleiten. Es hat sich vieles geändert, u.a. auch die Preise der Bahn, die derartige Empfangskomittees vereiteln. Im Übrigen ist es nicht mehr eine „exotische“ Abenteuerreise für uns, da sich der Reiseverkehr auch westlicher ausländischer Besucher normalisiert hat.

In Kursk hat sich viel geändert. Das Hotel „Kursk“, allen Besuchern unserer Reisegruppe bekannt, bildet den Treffpunkt für die täglichen Exkursionen. Da ist nicht unbedingt ein Fortschritt erkennbar. Vor dem Hotel blühen allerdings üppige Blumen in großzügigen Rabatten - die Stadt lässt sich nicht nur hier die Gestaltung ihres Zentrums einiges kosten. Im Hotel findet sich die Eingangshalle ebenso unverändert wieder, wie auch die Bedienung zum Frühstück zu keinem freundlichen Blick fähig zu sein scheint. Sie kassiert schweigend die Wertmarke für das Frühstück und bringt dann wortlos einen Teller mit warmem Essen, einen zweiten mit zwei Gebäckstücken, sowie einen Instantkaffee oder einen Tee. Doch verlässt man das Hotel, fallen Neuerungen auf: wendet man sich nach links, Richtung Theaterplatz, so erhebt sich dort ein neugebautes fünfstöckiges Einkaufszentrum, das allerdings nicht unbedingt also solches wirkt, da es - in seiner imponierenden Größe - historisierend aufgebaut wurde. Im Inneren befinden sich Unmengen von Geschäfte - mit anspruchsvollen Anbietern, die auch in anderen Metropolen der Welt ihre Waren anbieten. Am Sonntag, als das Stadtfest unzählige Besucher in die Innenstadt zieht, die dort mit beträchtlichem akustischen Aufwand den Boulevard entlang feiern (die Innenstadt wurde vorab durch die Polizei abgesperrt), hat das Kaufhaus geöffnet, und sehr viele Interessenten schieben sich durch die Gänge, um die Auslagen zu betrachten - beobachtet von uniformierten Sicherheitskräften, die im Haus verteilt sind.

Überhaupt: das Warenangebot. Wer vor 10 oder mehr Jahren in Kursk zu Besuch war, erlebte dort ein durchaus mageres Erscheinungsbild bezüglich Einkaufsmöglichkeiten, und die Neueröffnung eines Cafés, das rote Coca-Cola-Sonnenschirme auf den Bürgersteig stellte, war die Ausnahme. Die Lenininskaja ist auch heute keine "Einkaufsmeile“, dazu liegen hier doch viele öffentliche Gebäude (Museen, Theater, aber auch ein „Geburtshaus“ usw.). Dennoch: die Möglichkeiten, sich zu treffen, in gemütlicher Runde einen Kaffee oder auch ein Glas Bier zu genießen, haben sich deutlich verbessert.

Innerhalb der Stadt ist eine Reihe von Einkaufszentren entstanden, deren Warenangebote den unseren nicht nachstehen. Allerdings sind die meisten Preise höher als bei uns, was angesichts der durchschnittlichen Monatsgehälter für viele eine unüberbrückbare Hürde darstellen dürfte. Dennoch: es gibt erstaunlich viele Kursker, die sich so etwas offensichtlich leisten können. Auch ist das einheimische Warenangebot qualitativ deutlich besser geworden. Ich habe übrigens keine Läden wie „kik“ etc gesehen - vielleicht gibt es sie anderswo. Es gibt, unauffälliger als diese großen Warenhäuser, nach wie vor kleine „Märkte“, in denen, im Erdgeschoßbereich mehrstöckiger Wohnhäuser, nach Waren getrennt z.B. Fleisch, Milchprodukte, Backwaren in jeweils separaten Räumen angeboten werden; hier handelt es sich um Waren und Produkte, die von den Bauern der Umgebung direkt verkauft werden. Und wer je Blini, gefüllt mit diesem unvergleichlichen von den Bäuerinnen frisch hergestellten Quark genossen hat....

Das Wohnen: Kursk ist eine offensichtlich expandierende Stadt. Die Landflucht fordert von den Städteplanern einiges. So ist in den vergangenen Jahren ein neuer Stadtbezirk errichtet worden, in dem Wohntürme mit 20 Stockwerken und mehr entstanden. Dort fanden ca. 60.000 Menschen neuen Wohnraum. Auch derzeit wird ein neuer Stadtteil errichtet, auch hier sind Wohnungen für ca. 60.000 Bewohner vorgesehen. Wie die Infrastruktur dort im Einzelnen aussieht, konnte ich bei meinem Besuch nicht erfahren - das kann sicherlich ein Punkt für spätere Reisen nach Kursk werden. Es werden auch große Wohnhäuser mit großzügig geschnittenen Wohnungen neu gebaut, 3-4 Zimmer, dazu eine schätzungsweise 16-20 qm große Küche, modern eingerichtetes Bad, sowie ein Gäste-WC und eine einladend offene Diele sind Grundausstattung. Solche Wohnungen sind sicherlich Ausnahmen, auch bei Neubauten. Die Eingangstüren liegen auf der Rückseite der ca. 10-stöckigen Häuser, sind eher unscheinbar und werden über einen Zahlencode geöffnet, der übrigens über eine so hoch angebrachte Tastatur eingegeben wird, dass Kinder ihn nicht bedienen können. Das Treppenhaus, das wir betreten, ist unspektakulär, eher dunkel, und die an der Seitenwand angebrachten Briefkästen geben keine Rückschlüsse auf den gehobenen Wohnkomfort. Verlässt man das Haus, so stehen viele Automobile der gehobenen Mittelklasse auf dem Innenhof, die vorhandenen Garagen reichen nicht aus. Immerhin: diese Häuser stehen in Kursk, nicht außerhalb, und haben somit Verbindung zu den umliegenden kleinen Wohnhäusern, die zum Teil noch 60 Jahre und älter sind. Die Wohnungen und Häuser sind oft gekauft; Mietverhältnisse sind nicht die Regel.

Bei einem späteren Ausflug werde ich im weiteren Umkreis der Stadt (oblast) einen Einblick in eines der „typischen“ alten Holzhäuser erhalten. Diese liegen, an der Straße rechts und links aufgereiht, hinter einem breiten grasbewachsenen Straßenrand, auf dem sich Hühner tummeln und ab und zu eine Ziege oder auch schon einmal eine einzelne Kuh träge weidet. Hinter einem schmalen, geteerten Fußwerk führt der Weg an mannshohen Bretterzäunen vorbei; in Abständen zweigen kleine Pfade zu den Eingangstüren ab. Oft sind vor diesen Zäunen bunte Blumenbeete mit Bauerngartenblumen angelegt. Aus diesen Außenbezirken ziehen viele junge Leute weg und streben in die Stadt selbst - oder nach Moskau, wo sie sich Arbeit und bessere Löhne erhoffen (die dann allerdings durch den teuren Lebensstandard dort wieder relativiert werden). Die zurückbleibenden Alten sind auf die Versorgung durch Kinder oder Bekannte angewiesen - im Übrigen ein Phänomen, das in vielen Staaten stattfindet.

Die Beziehungen und Relationen der Generationen zueinander sind ausschlaggebend für die Entwicklung jeder Gesellschaft. Da gibt es viele Indizien für mögliche Zukunftsperspektiven. Viele Menschen haben in den vergangenen 20 Jahren erhebliche Wertänderungen ihres persönlichen Selbstverständnisses erfahren. Das gilt für russische wie für deutsche, wie auch für globale Bereiche. Da gibt es zum einen (noch) die etablierte Führungsschicht, dann eine neue, wirtschaftlich aufgeschlossene und in den vergangenen 10 - 15 Jahren erfolgreiche Mittelschicht und eine neue Oberschicht, und des weiteren „die Jugend“, die sich in vielem noch suchend ihre Identität erarbeitet. Nicht zu vergessen sind allerdings auch die zahlreichen älteren und alten Menschen, die sich in den neuen Zeiten nicht mehr so ganz zurecht finden. Bei diesen Gedanken fällt mir auf, nur sehr wenige alte Menschen auf den Straßen gesehen zu haben - und das Klischee von alten Frauen im Kittel und mit bunten Kopftüchern, die putzend und fegend die Straßen sauber halten, ist längst abgelöst von moderneren Straßenpflegern, die aus anderen Staaten der alten Sowjetunion stammen. Bei dem bestehenden Verkehrsaufkommen ist dies auch unumgänglich. Die Stadtverwaltung ist daher beständig dabei, an dem Ausbau einer modernen Infrastruktur zu arbeiten; allein während der wenigen Tage in Kursk wurde - neben zügigen Straßenerneuerungen - die Eröffnung einer Brückenerweiterung mit vierspurigen Fahrbahnen zelebriert.

Nach und nach führt die Straße in die Stadtteile außerhalb, die Landschaft öffnete sich in sanfter hügeliger Weite, und zurückblickend lässt sich auf den flachen Kuppen der offenen, eiszeitlich geprägten Flusslandschaft die Stadt erkennen. Und obwohl Kursk eine industriell geprägte Stadt ist, fällt mir optisch keine große Luftverschmutzung auf.

Nach einer guten Stunde erreichten wir Marinju, einen Kurort, in dem ein gleichnamiger Herrensitz der Fürsten Bartjatinskij steht.

Sabine van den Bosch

 

Alle Reiseberichte:

 

Das Fest "Kursker Nachtigall"

 

Gedenkstätten in Kursk

 

Zwei Reisen nach Kursk

 

Eine Flussfahrt auf der Swapa im Gebiet Kursk

 

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