Bürgerreise nach Kursk 2013

Freitag 31.6.2013. Nach einem nassen, zu kalten Frühjahr und tags zuvor einem Unwetter mit Überschwemmungen in Kellern und Wohnungen treffen sich 10 Kursk-Reisende am Flughafen Düsseldorf. Neben den 8 WittenerInnen reisen Babara Z.-F. aus Hattingen und Paul-Gerhard R. aus Hamburg mit.

Was treibt diese 10 Leute an, die Reise, die in den  vergangenen 25 Jahren mehr als zehnmal durchgeführt wurde, wieder anzugehen? Wie ist es möglich, das Interesse hieran über diesen Zeitraum hochzuhalten?

Es sind die über die Jahre gewachsenen, inzwischen tiefen Verbindungen zwischen WittenerInnen und KurskerInnnen, es ist das Interesse an der Partnerstadt, über die immer mal wieder berichtet wird, es ist die Neugier auf dieses Fremde, dieses Land, die Stadt und die Menschen und es ist der noch immer wichtige Friedens- und Aussöhnungsgedanke.

„Ich will endlich mal wieder meine langjährige Freundin in Kursk besuchen, die nach mehrjähriger familiärer Pflegetätigkeit nunmehr mit mir eine Reise machen möchte“, sagt Barbara Z.-F. beispielsweise.

Peter H. will die Stadt und die Menschen endlich selbst kennen lernen, nach dem sein Interesse hieran durch die Aktivitäten des Freundeskreises und seines eigenen Engagements wieder geweckt wurde.

Paul Gerhard R. möchte die Stadt und die Menschen kennenlernen, über die sein Onkel Gerhard L. so oft erzählt hat.

Für Gerd L., mit 80 Jahren der älteste Teilnehmer der Reise, ist der intensive und dauerhafte Austausch zwischen den Menschen hier und dort - nach Krieg und Leid - eine unbedingte Grundlage eines friedvollen Zusammenlebens.

„Diese außergewöhnliche Reiseart von Stadtbesichtigungen, Informationen, Leben in den Familien, Kennlernen der Zivilgesellschaft, geführte Reisen in die Region, eintauchen in die Kultur und insbesondere in die Geschichte der Stadt und des Umlandes bereichert mich und ist in dieser Form anderweitig nicht zu buchen“, sagt Conny B.

Einigermaßen pünktlich um 9:00 Uhr starten wir und erreichen den Flughafen Moskau-Vnukovo bei stürmischen Wetter und turbulentem Anflug  um ca.15:00 Uhr Ortszeit. Wir bleiben eine Nacht in Moskau, bevor wir mit dem Zug nach Kursk weiter fahren.

Um 17: 00 Uhr haben wir einen Empfang bei der Deutschen Botschaft, die südwestlich am Rand der Innenstadt liegt, in der Nähe zur berühmten Lomonossow-Universität. Der Botschaftsrat erläutert uns die wesentlichen Punkte der derzeitigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation in Russland. Danach ist die innenpolitische Lage u. a. stark durch die NGO-Gesetzgebung bestimmt, durch die einige zivilgesellschaftliche Gruppierungen unter Druck geraten sind. Das Gesetz gegen „Propaganda für nicht-traditionelle Lebensformen“ (Homosexuelle) werde von 80 % der Bevölkerung begrüßt. Neue Prozesse gegen oppositionelle Politiker und Regierungskritiker finden statt oder sie verlassen das Land, wie z. B. in jüngerer Zeit der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow.

Außenpolitisch ist seit einiger Zeit eine Verschlechterung der Beziehungen zu den USA festzustellen. Mit der Ukraine wird derzeit über einen Betritt zur bestehenden Zollunion Russland, Weißrussland und Kasachstan verhandelt. Damit würde die Ukraine immer mehr an Souveränität verlieren. Die Beziehungen zu China können als gut bezeichnet werden, geraten jedoch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zunehmend in eine Schieflage. Eine Visa- Befreiung ist auch aus deutscher Sicht derzeit nicht absehbar.

Die Durchschnittseinkommen liegen im Mittel zwischen 500,- und 1.000 €, die Durchschnittsrenten sind zwischenzeitlich auf ca. 250 € erhöht worden, Altersarmut ist in Russland weit verbreitet. Das Gesundheitswesen wurde durch Einführung verschiedener Maßnahmen etwas verbessert. Viele, gut ausgebildete, insbesondere junge Menschen, verlassen nach wie vor das Land, wenn sie in Moskau oder St. Petersburg keine Arbeitsplätze finden.

Wirtschaftlich ist Russland nach wie vor durch die Energieförderung von Öl und Gas geprägt. Der in der Vergangenheit erfolgte wirtschaftliche Aufschwung sinkt. Durch die Ausbeutung der Ölschiefervorkommen in den USA und anderswo könnte sich die wirtschaftliche Situation in Zukunft verschlechtern. Weiterverarbeitende Industrie- oder Gewerbebetriebe (als Nachfolge der aufgegebenen Altindustrie) sind trotz der Vielfalt der Rohstoffe nicht vorhanden. Hiervon ist auch das Kursker Gebiet betroffen. Große Konzerne wie VW, Bosch und Siemens sind in Russland vertreten, kleinere und mittlere Betriebe auf Grund fehlender Rechtssicherheit jedoch bisher nicht oder nur in Einzelfällen.

Die Übernachtung im Izmailovo–alpha-Hotel im ehemaligen Olympia-Dorf (Olympiade 1980) nordöstlich der Innenstadt mit einem überwältigenden Blick aus dem 22. Geschoss über Moskau ist angenehm und nach dem langen Tag sehr erholsam.

Am nächsten Tag, Samstag, d. 22.06. geht es nach einem reichhaltigen und vielfältigen russischen Frühstück mit unseren Moskauer Freunden Sergeij G. und Sergeij S. auf eine mehrstündige Stadtrundfahrt und Rundgang durch Moskau. Die Stadt ist in den letzten Jahren dramatisch gewachsen und umfasst derzeit ca. 15 Mio. Einwohner, allein in den letzten 10 Jahren wuchs sie um ca. 5 Mio. Einwohner. Unter dem früheren Bürgermeister Luschkow wurden im sogen. „türkischen Stil“ riesige Wohnviertel mit mehr als 20 Geschossen errichtet. Da der öffentliche Nahverkehr über das bestehende Netz hinausgehend nicht entsprechend weiter ausgebaut  wurde, ergeben sich kilometerlange Staus auf nahezu allen Straßen. Wir haben einigermaßen Glück: Die Stadtrundfahrt über den „Gartenring“, eine der vier Straßenringe um Moskau, und der uns neben dem historischen Moskau viele neue Stadtteile zeigt, ist um diese Zeit, am Samstagmorgen, gut befahrbar. Wir sehen einige der „Sieben Schwestern“, Stalin-Hochhäuser aus den 1950er Jahren. Von den Sperlingsbergen an der Lomonossow-Universität ergibt sich ein weiter Überblick über den Kern von Moskau mit seinen gold glänzenden Kuppeln, den Hochhäusern und der neuen Moscow-City, komprimierte und hoch aufschießende Bausubstanz wie in vielen Weltmetropolen dieser Zeit. Die Sperlingsberge sind heute, wie auch andere geschichtsträchtige Orte der Stadt (bzw. in Russland), anscheinend symbolische Begegnungsorte für viele Hochzeitsfeste. Elegante Brautpaare entsteigen „Stretchlimousinen“  und lassen sich vor dem Hintergrund Moskaus oder der Universität mit einem Glas Sekt fotografieren.

Das neue und das alte Moskau

 

Der Besuch des Neu-Jungfrauenklosters, einem der bekanntesten russischen Klöster, führt uns mitten in Moskau in die weit zurückliegende Zeit der russisch-orthodoxen Kirche. Auf dem unmittelbar angrenzenden Friedhof  finden wir die Grabstätten vieler großer Persönlichkeiten des Landes, so u. a. die Gräber und Gedenksteine von den Dichtern N. Gogol, A. P. Tschechow, W. Majakowski und M. Bulgakow aber auch von R. Gorbatschowa, B. Jelzin und N. S. Chruschtschow.

Nach einem Mittagessen in einem typisch russischen Restaurant (Ziegenbrodi) noch ein Stadtrundgang durch das alte Moskau, vorbei an der Akademie der Wissenschaft, dem Sitz des KGB, dem Kaufhaus GUM aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, zum Roten Platz. An diesem Nachmittag ist der Platz voll mit Besuchern aus den unterschiedlichsten Ländern, Popen mit langen Gewändern, Kadetten, die ihr Offizierspatent feiern und überall fröhliche Menschen. Daneben dennoch viel Armut, wenn auch scheinbar nicht mehr so extrem wie vor Jahren. Die beiden Sergeijs erzählen viel Witziges, Wissenswertes über das alte Moskau, zeigen uns einige prächtige U-Bahn-Stationen, u. a. die Station Platz der Revolution, an der Conny B. ein Dankeslied für unsere beiden Stadtführer singt. Der Versuch, die Christ-Erlöser-Kathedrale zu besichtigen, misslingt zum tiefen Bedauern von Gerd buchstäblich in letzter Minute.

Dann zurück zum Kursker Bahnhof. Das restaurierte Bahnhofsgebäude ist eine wichtige Drehscheibe zwischen Zentrum, den südlichen Stadtteilen und dem Fernverkehr. Noch ein letzter Snack im prächtig gestalteten Bahnhofsrestaurant, dann geht es mit dem Nachtzug nach Kursk. Die beiden Sergeijs verabschieden uns herzlich.

Sonntag, 23. 06. morgens um 06:00 Uhr Hektik. Der Zug läuft in wenigen Minuten in Kursk ein. Gedränge an den Toiletten, anziehen, Betten herrichten, Koffer räumen, den Tee noch bezahlen, alles in großer Eile. Dann die Ankunft. Der Bahnsteig, wie immer voller Kursker FreundInnen. Blumen, Umarmungen, Küsschen zigfach, unsere Erstfahrer sind überwältigt. Alle helfen das Gepäck tragen, jeder schleppt, Wo sind unsere Koffer, Taschen? Alles findet sich vor dem Bahnhof wieder.

Der größte Teil unserer Gruppe wohnt in Familien. Peter, Rita und ich werden im Hotel „Prestige“ untergebracht (Hotel Kursk ist ausgebucht). Dies hat auch ganz praktische Gründe: So können wir den jeweiligen Tag morgens vor-, bzw. abends nachbereiten. Um 11:00 Uhr ist der erste Termin. Wir kommen mit dem Kursker Vorstand zusammen und besprechen das Wochenprogramm und gemeinsame Projekte. Wenngleich das Programm dicht gefüllt ist, haben wir doch eine spannungsreiche Zeit vor uns, mit Reisen in die Region, Stadterkundung, Empfang bei der Verwaltung und verschiedener Organisationen, Einblick in Kultur und Historie und natürlich die Zusammenkünfte in den Familien und mit den FreundInnen.

Am Sonntagnachmittag sind wir zum Programmauftakt in die Keimzelle der Städtepartnerschaft, in die „Wissenschaftliche Gebietsbibliothek Nikolaj N. Aseev“ im Herzen der  Stadt eingeladen. Zunächst werden uns die unterschiedlichen Bestände erläutert, die insgesamt ca. 2,5 Mio. Bände umfassen. Die Anzahl der deutschsprachigen Literatur umfasst ca. 9.000 Bände. Während der Okkupationszeit von 1941 bis 1943, wurden viele Bücher, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen, vernichtet. Uns wird u. a. das kleinste und das größte Buch gezeigt. Dann begrüßt uns die Leiterin Ljuba Chomjakowa herzlich. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Partnerschaft erinnert sie an die ersten Begegnungen der Wittener Friedensdelegation mit dem Club Globus in Kursk an diesem Ort. Zugleich erläutert sie die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Universalbibliothek für die Stadt, ihre Bewohner und auch für die ausländischen Studenten. Wir erleben ein umfangreiches, kulturelles Programm mit musikalischen und tänzerischen Darbietungen und stellen uns alle den anwesenden Kursker BürgerInnen vor. Das lokale Fernsehen ist ebenfalls anwesend. Peter, Rita und  ich werden interviewt zum Zweck und Ziel unserer Reise. Das lokale Fernsehen übernimmt in Russland weitgehend die Rolle der lokalen Printmedien bei uns.

Ljuba Chomjakowa (rechts) ist eine der Begründerinnen der Partnerschaft

 

Am Abend gibt es ein sehr schönes und angenehmes Begrüßungsfest  mit dem Kursker Verein, natürlich mit vielen Reden, Trinksprüchen, Spielen und Tanz.

Am Montag, 24. 06., wird bei dem Termin mit dem Bürgermeister Ovcharov und der Administration die gute Kooperation auf vielen Ebenen betont sowie das anstehende Jazz-Projekt in Witten herausgestellt und es werden weitere Begegnungsmöglichkeiten benannt. V. Fillipowa erläuterte die Kontakte zwischen der Holzkampschule und der Schule 32 in Kursk. Herr Ovcharov unterstrich die Wichtigkeit einer nachhaltigen Zusammenarbeit und der Begegnungen. Das von uns überreichte Gastgeschenk, eine Grubenlampe, nahm der Bürgermeister sehr erfreut entgegen. Auch hier wieder viele Kameras und Journalisten.

Besuch beim Bürgermeister Ovcharov

 

Der besseren Übersicht entsprechend, wird im Weiteren der Reisebereicht nicht termin- sondern themenbezogen dargestellt.

 

Stadt Kursk, Organisationen und private Einrichtungen

Informationen zur Stadt Kursk

Eingangs hatte der Bürgermeister kurz die Entwicklung der Stadt skizziert, die im Wesentlichen durch private Investitionen im Wohnungsbau und durch starkes Bevölkerungswachstum geprägt ist. In einem weiteren Gespräch mit einem Stadtplaner der Stadt wird uns die Dynamik dieser Entwicklung verdeutlicht. Neue verdichtete Stadtteile im Norden und Nordwesten mit mehreren 10.000 Einwohnern entstehen, daneben wird auch der 1 und 2-Familienhausbau forciert. Für Kinder/Jugendliche ohne Familien werden eigene Wohnungen (betreutes Wohnen?) gebaut, allein in diesem Jahr bisher 100 Wohnungen. Die Kosten für den Erwerb von Eigentumswohnungen liegen bei ca. 24. 000 Rubel/qm Wohnfläche. Gefördert werden pro Person 18 qm, zuzüglich 30 qm für die Familie. Darüber hinaus werden Einkaufs- und Freizeitzentren errichtet. Die Stadt hat derzeit ca. 425.000 Einwohner. Von einem weiteren massiven Bevölkerungswachstum wird ausgegangen, durch Zuzug aus dem ländlichen Umfeld und insbesondere durch Zuzug aus den ehemaligen sowjetischen Republiken. Öffentliche Investitionen für die hierfür erforderlichen Infrastruktureinrichtungen im Kultur-, Bildungs- und Verkehrsbereich fehlen jedoch weitgehend. So wird beispielsweise, von Einzelmaßnahmen (Brücke, Umgehungsstraßen im Süden) abgesehen, auf die Verbreiterung der Straßen und das bereits realisierte Einbahnstraßensystem gesetzt. Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr oder in den Radverkehr werden (noch nicht) als nicht notwendig angesehen. Gleiches gilt in der Energieversorgung: Gas und Atomkraft ist vorhanden, der Einsatz regenerativer Energien wird noch nicht angegangen.

Die am gleichen Tag durchgeführte Stadtrundfahrt führt uns zu den architektonischen Highlights der Stadt, den Kathedralen, den Kulturgebäuden, aber auch zu der nationalen Gedenkstätte und zum Ehrenmal an der Karl-Marx-Straße. Wir sehen die neuen Wohnstadtteile im Norden und Westen der Stadt mit bis zu nahezu 20 Geschossen verdichteter Bebauung, in der Regel ohne ausreichende Versorgung, öffentliche Einrichtungen und Parkmöglichkeiten. Gegenüber dem sozialistischen Wohnungsbau aus den 60er/70er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine höhere Qualität, eine größere Farbenvielfalt und Formensprache. Andererseits zeichnen sich die neuen privaten Investitionen durch weitgehendes „Weglassen“ der Allgemeingüter (z.B. Kindergarten) aus. Auch für diese werden nicht zuletzt durch die Hinwendung zur Marktwirtschaft inzwischen private Einrichtungen angeboten.

 

Besuch der Schule Ritm

Wir besichtigen die private Schule „Kunst für Kinder - Haus Rhythmus“, die ein weitergehendes, freiwilliges Bildungsangebot darstellt. Die Schule hat ca. 3.000 SchülerInnen (es existieren zwischenzeitlich mehrere Schulen dieser Art in Kursk). Die Direktorin, Frau W.I. Lawrik, erläutert uns das Ziel der Schule, das u. a. auf eine höhere Persönlichkeitsbildung im musischen, künstlerischen und sportlichen Bereich ausgelegt ist. Kinder und Jugendliche führten uns tänzerische und sportliche Darbietungen von hoher Qualität vor, so z. B. Ballettübungen, Kampfsport-Schaukämpfen und Ballsportaktionen. Diese Schule würde gern mit einer vergleichbaren Wittener Schule kooperieren. Wir sagen eine Weiterleitung dieser Bitte zu.

 

Besuch im Jugendcamp

Eine weitere private Einrichtung stellt das Jugendcamp am Rand der Stadt dar, das wir besichtigten. Das Camp liegt in einem Waldgebiet und bietet in Häusern Platz für ca. 270 Kinder und Jugendliche. die sich auf Grund ihrer besonderen Leistungen für eine Teilnahme (nicht nur auf Kursk bezogen) qualifizierten. Die Freizeitangebote beziehen sich auf künstlerische, musikalische und sportliche Aktivitäten. Wir erhalten Einblick in die Unterkünfte und sehen die Aktivitäten der Kinder. Peter überreicht zur großen Freude der Kinder und Jugendlichen einen Fußball von Borussia Dortmund.

 

Besuch beim Friedensfonds

Im Besuch des „Friedensfonds“ (halbstaatlich) erläutert uns die örtliche Leiterin Frau I. Agapowa die Aktivitäten dieser Organisation, die seit 50 Jahren besteht. Ein Ziel ist, Kinder und Jugendliche an das Thema Friedensentwicklung heranzuführen. Dies geschieht durch Teilnahme an internationalen Friedensmärschen oder an Mal-Wettbewerben. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Integration von Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Frau Agapowa ist daran interessiert, zum 70. Gedenktag des Kriegsendes im Mai 2015 mit einer Gruppe des Friedensfonds für ca. 10 Tage nach Witten zu kommen, evtl. wären auch Teilnehmer aus Speyer hieran interessiert. Drei Kinder stellen uns ihr musikalisches Können vor, uns werden Bücher über die Tätigkeit des Fonds überreicht. Anschließend führt uns A. Sudow zu dem Gedenkort am Roten Platz. Wir legen Blumen nieder.

 

Besuch im sozialpädagogischen College

Am Samstag sind wir im sozialpädagogischen College, in dem u. a. die Ausbildung zu GrundschullehrerInnen stattfindet. Uns wird die Auswertung der Fragebogenaktion über das Leseverhalten unterschiedlicher Altersgruppen in Kursk und Witten detailliert und anschaulich vorgestellt. Interessant ist, dass deutsche Literaturen (insbesondere Klassiker) in Kursk generell über alle Altersgruppen hinweg gelesen werden. Im Gegenzug  wird russische Literatur bei uns jedoch überwiegend nur bei der Altersgruppe zwischen 62- 78 Jahren gelesen, hier allerdings auch Gegenwartsliteratur. Die Auswertungsergebnisse will man uns zusenden. Auch hier wieder musikalische Begleitung auf hohem Niveau.

 

Besuch beim Jugendparlament

Das Jugendparlament der Stadt, das seit ca. 8 Monaten besteht. hat uns eingeladen und will mit uns ins Gespräch kommen, Die stellvertretende Bürgermeisterin und die Direktorin dieses Parlaments Frau Olga Germanova erläutern uns die Zusammensetzung und die Aufgaben dieser Vertretung, die 34 Mitglieder in der Altersgruppe zwischen 18 – 30 Jahren umfasst. Die Mitglieder sind Vertreter verschiedener gesellschaftlicher (Jugend-) Organisationen. Die Hauptaufgabe ist die Beachtung der Belange der Jugendlichen und junger Erwachsener. Die Mitglieder sind ehrenamtlich tätig. Im Gespräch erläutert Rita das Kinder- und Jugendparlament in Witten. Es wird deutlich, dass die Arbeitsweise und die Ziele nicht vergleichbar sind. In Kursk liegt der Ansatz  auf konkrete Hilfe, also eher im exekutiven Bereich, in Witten dagegen eher auf das Heranführen junger Menschen an demokratische Entscheidungsprozesse. Die Kürze der Zeit ermöglicht leider keinen vertiefenden Austausch.

 

Besuch im Altersheim

Am letzten Tag unserer Reise besucht ein Teil unserer Gruppe das Altersheim „Birkenwäldchen“. Es wird über evtl. weitere Kooperationsmöglichkeiten bezüglich der Weiterbildung von AltenpflegerInnen gesprochen. Die Leiterin, Tatjana Romanowskaja, erläutert uns die Situation der alten Menschen im Gebiet Kursk, die Maßnahmen des Staates, die Aus- und Weiterbildung in Kursk und führt uns durch das Altersheim. Für das Kursker Gebiet mit ca. 2 Mio. Menschen stehen etwa 6 Altersheime zur Verfügung (in Witten 6 Heime für ca. 95.000 Einwohner). Die Versorgung alter Menschen ist in Russland prinzipiell (noch) auf die Familie bezogen, mit allen Vor- und Nachteilen. Frau Romanowskaja erinnert an die Kooperation zur Altenpflegeausbildung vor mehr als 10 Jahren. Peter H. erläutert ein mögliches Konzept. Ein weiterer Austausch wird vereinbart, neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit, ggf. auch mit Speyer, sollen geprüft werden.

 

Fahrt nach Marino/Rylsk

Die erste Fahrt am 26.06. in die Region führt uns zu dem bekannten ehemaligen Fürstensitz Marino mit seinem weitläufigen Landschaftspark, der zwischen 1818 und 1823 von dem deutschen Architekten Karl Hofmann erbaut wurde. Das ehemalige Schloss ist heute ein Sanatorium im Staatsbesitz. Wir erhalten eine kenntnisreiche Führung und erleben u. a. den „Flüstersaal“, den blauen Salon und weitere architektonischen Schätze. Danach geht es weiter zu der alten Stadt Rylsk, in der Nähe zur ukrainischen Grenze. Nach Besichtigung der Spuren der ehemaligen Festungsanlage hoch über Stadt und Landschaft, einem Gang durch die Stadt, besichtigen wir dort ein inzwischen restauriertes Kloster. Das russisch-orthodoxe Pfingstfest wurde übrigens am letzten Wochenende begangen. Das besondere: Die Fußböden werden an diesem Feiertag mit frischem Heu ausgelegt, ein wunderbarer Duft, der den ganzen Kirchenraum ausfüllt. Von dem noch jungen Abt, der uns die Situation des Klosters erläutert, werden wir zu einem umfangreichen und genussvollen Essen eingeladen, mit all den Speisen und Zutaten, die die russische Küche hergibt. Wir bedanken uns mit einer finanziellen Unterstützung.

Außerhalb der Gebäude bittet uns ein alter Mönch, über seinen in Deutschland verschollenen Vater, bzw. dessen Grabstelle zu recherchieren. Wir nehmen seine Bitte gern an.

 

Ausflug in die Steppe

Eine weitere Fahrt führt uns in die Strelitzensteppe, ca. 20 km südlich von Kursk, die 1935 unter Naturschutz gestellt wurde und heute ein Unesco-Biosphärenreservat ist. Die Waldsteppe ist bekannt wegen ihrer Schwarz-Erde-Böden und der damit verbundenen einzigartigen Artenvielfalt (87 Pflanzen je qm). Weltweit wurden die Schwarz-Erde-Böden im Lauf der Geschichte zu Ackerland umgenutzt. Der Kursker Botaniker W.W. Alechin hatte bereits frühzeitig, als erster, den botanischen Wert dieser Landschaft entdeckt. Das Gebiet war zu früheren Zeiten Heimat verschiedener Nomadenvölker, von denen noch eine Steinfigur, die „Poloveckaja Baba“ zeugt. Heute dient ein Teil dieser Flächen der Erforschung von Steppenentwicklungen auf diesen fruchtbaren Böden.

 

Der Gedenkort Prochorowka

Die Fahrt zu dem Gedenkort der „Schlacht am Kursker Bogen“ vor 70 Jahren, im Sommer 1943, stellt einen Höhepunkt unserer Reise dar. Anlässlich dieses besonderen Gedenkjahres hatte unser Partnerverein die Fahrt vorbereitet. Diese größte Panzerschlacht in der Militärgeschichte, mit je nach Angabe, allein auf russischer Seite über 200.000 Toten, stellt nach Aussagen verschiedener Quellen den eigentlichen Wendepunkt des Krieges dar. Der Gedenkort ist das ehemalige Dorf Prochorowka im Gebiet Belgorod, ca. 140 km südlich von Kursk. Wir erreichen den Ort gegen Mittag, in großer Hitze.

Eine monumentale, heroische Gedenkstätte, die erst in den letzten Jahren fertig gestellt wurde und als Ensemble aus Kirche, Turm mit Siegesglocke, ca. 20 historischen, aufgereihten Panzern, Skulptur, Museum und Hotel besteht, begegnete uns und nahm uns den Atem. Eine völlig andere Erinnerungskultur als z. B. in Swoboda nördlich von Kursk. Das Museum zeigt in Bild-, Film-, und Tonmaterial den Überfall auf die Sowjetunion 1941 und das heldenhafte Zurückdrängen der deutschen Armeen, insbesondere in der Schlacht um Prochorowka. Dazu passt, dass die kleine Kantine äußerlich, innerlich und personell militärisch gestaltet ist. Eindrucksvoll war für uns eine Stahlskulptur mehrerer hochgedrückter und ineinander verkeilter Panzer, unter denen ein völlig abgedunkelter Raum lag, in dem die infernalischen Geräusche des Krieges und dieser Schlacht zu hören waren. Keiner von uns hielt es hier lange aus. Anschließend tauschen wir uns in kleinen Gruppen über das Erlebte aus.

Der Rückweg führt uns über ein „ethnisches Dorf“, einer neuen privaten Freizeitanlage mit historischen russischen Häusern, Teichen mit Bademöglichkeit, Quellen und einer Gaststätte. Dieser Freizeitort, einer der wenigen künstlich geschaffenen, war gut besucht.

 

Kulturelle Veranstaltungen

Schulabschlussfeier im Pushkin-Theater

Gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes konnten wir im Pushkin-Theater an einer der Schulabschlussveranstaltungen bzw. Entlassfeiern teilnehmen. Das große Theater war nahezu vollständig belegt. Bereits 1 Stunde vorher kamen die ersten Teilnehmer und Besucher, und der Theater-Vorplatz füllte sich mit elegant angezogenen, herausgeputzten jungen Menschen. Junge Männer als Dressmen oder Businessmen, junge Frauen als Models in High Heels, in bisher nicht gesehener Höhe. Mit unseren Abschlussfeiern nicht zu vergleichen. Auf  der Bühne wird ein mehrstündiges Programm hoher Perfektion gezeigt, dass sich mit der vergangenen Schulzeit manchmal lustig, manchmal ernst befasst und Lehrer und Eltern mit einbezieht.

 

Besuch im Puppentheater

Ein weiterer kultureller Leckerbissen ist der Besuch des Puppentheaters bei Alexandra Kondandrova und Valerij Bulgajew. Das Theater befindet sich südlich des Roten Platzes. Puppenspiel ist in Russland sehr beliebt und weit verbreitet. Das Kursker Theater besteht seit ca. 70 Jahren und hat ca. 50.000 Besucher im Jahr, bei 1-2 Vorstellungen am Tag. Wir sahen das Stück „Wie der Hund versucht, Miau zu sagen“. Mit uns besucht eine Schulklasse (ca. 2. Klasse) das Stück, die von den Puppen und dem Spiel, wie auch wir, sehr begeistert sind. Anschließend haben wir Einblick in die Werkstatt, wobei uns Gestaltung und Technik der Puppen erklärt wird. Das Theater hat ein Interesse Stadt Witten und die Ruhrbühne erneut zu besuchen.

 

Kontakte mit den Menschen in Kursk

Die eigentlichen kulturellen und sozialen Höhepunkte sind natürlich die Aufenthalte und das Zusammenleben in den Familien, die Begegnungen, die gemeinsamen Spaziergänge abends nach dem Tagesprogramm, bei denen die Herzlichkeit und Gastfreundschaft besonders deutlich und erfahrbar wird. Daher sei an dieser Stelle nochmals allen Freundinnen in Kursk hiefür ganz herzlich gedankt.

 

Abschiedsabend

Das Abschiedsfest  findet auf der Datscha bei Valeri am Ufer des Sejm statt, bei warmem und sonnigem Wetter. Als wir ankommen, ist alles schon vorbereitet. Auch die Männer des Kursker Freundeskreises hatten Hand angelegt, nicht nur beim Grillen und Bier zapfen. Die Tische sind reich gedeckt. Natürlich werden wie immer bei solchen Festen Reden hin und her gehalten.

Unser „Alterspräsident“ Gerd L. hält eine emotionale und beeindruckende Rede, Rita überreicht  Gastgeschenke an den Verein, stellvertretend an den Vorstand. Auch Paul Gerhard bedankt sich bei allen tiefbewegt. Diesmal treten wir, die Wittener Gäste, sehr geschlossen und homogen auf, was sich durch ausgezeichnete gemeinsame musikalische Beiträge unsererseits und durch Einzelbeiträge (Conny B.) dokumentiert. Mit dem Song „Heute hier morgen dort“ von Hannes Wader gelingt uns sogar eine Gemeinsamkeit mit den KurskerInnen. Gegen 21:00 Uhr noch ein kühles aber angenehmes Bad im Sejm.

 

Konzert des Chor Capella Kursk

Am Sonntag, dem Tag unserer Abreise, dürfen wir noch ein Konzert des Chor Capella in der katholischen Kirche erleben. Ein toller Abschluss unserer Reise. Erst unmittelbar vor Beginn erfahren wir, dass dieses Konzert unseretwegen gegeben wird. Peter bedankt sich mit einer gut gestalteten Rede bei Jewgenij Lesgostajew.

 

Rückreise

Um 21:00 Uhr treffen wir uns alle am Kursker Bahnhof. Unsere elektronischen Tickets werden akzeptiert, so dass wir gelassen den Zug besteigen können. Vor der Abfahrt bilden die KurskInnen auf dem Bahnsteig noch einen großen Kreis, und wir gehen innen von einem zum anderen und verabschieden uns. Mit vielen Händedrücken, Umarmungen, Küsse links und rechts, viel Drushba und mit dem Versprechen auf ein Wiedersehen steigen wir ein und winken, bis wir uns nicht mehr sehen. Morgens um 6:00 Uhr erreichen wir einigermaßen ausgeschlafen Moskau, wo uns Arsen Melintonjan erwartet. Nach dem Frühstück führt er einen Teil unserer Gruppe noch kenntnisreich durch das „Deutsche Viertel“, dann 9:30 Uhr Transfer zum Flughafen. Nachmittags um ca. 17:00 Uhr erreichen wir Düsseldorf, wo wir uns von Barbara und Paul trennen.

 

Fazit der Reise

Eine gelungene Reise, eine weitgehend homogene Gruppe, tiefe Einblicke in die russische Gesellschaft und ihre Transformation und insbesondere für die „Erstfahrer“ ein emotionales Eintauchen in die russische Gastfreundschaft und familiäre Herzlichkeit.

An dieser Stelle herzlichen Dank für die Vorbereitung, Durchführung und gute Betreuung stellvertretend für alle an Nadja, Lena, Jelena, Julia und Olga.

Bericht: Dieter Boele, unter Verwendung der Aufzeichnungen von Paul Gerhard Roth

Fotos von Paul Gerhard Roth

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